Gewaltlosigkeit ernst nehmen



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Gewaltlosigkeit ernst nehmen


Interview mit Mubarak Awad
von Jason Francis
in Auszügen. Das vollständige Interview finden Sie in der Magazinausgabe von Share International vom September 2011.

Nach seiner Vertreibung aus Palästina gründete Mubarak Awad im Jahr 1989 die in Washington DC ansässige Nichtregierungsorganisation Nonviolence International, um den Aufbau einer gewaltfreien Kampagne und die erste Intifada zu unterstützen. Nonviolence International ist ein dezentrales Netzwerk von Bildungszentren und fördert weltweit gewaltfreie Aktionen. Seit 30 Jahren ist Awad zudem als Jugendanwalt tätig und hat zur Unterstützung von Jugendlichen, die in Schwierigkeiten stecken und vernachlässigt werden, überall in den Vereinigten Staaten zahlreiche Programme geschaffen. Jason Francis hat für Share International mit Mubarak Awad gesprochen.

Share International: Kann Gewalt wie Terrorismus, Rebellion und Guerillakrieg jemals ein akzeptables Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele sein, selbst wenn diese lobenswert sind und es um Gerechtigkeit und Befreiung von Tyrannen geht?

Mubarak Awad: Ich halte nichts von Terrorismus. Ich halte auch nichts von Gewalt, selbst gegen einen brutalen Diktator. Ein Diktator sieht nur sich, er hat aber andere Leute, die ihn an der Macht halten - das Militär, das Bankensystem, die Polizei, Sicherheitsbeamte und so weiter. Gewaltfreies Handeln bedeutet, diese Leute nicht umzubringen, sondern zu versuchen, sie davon zu überzeugen, den Diktator nicht mehr zu unterstützen - in ihrem ureigensten und im ureigensten Interesse der Gemeinschaft und des Landes, denen sie dienen.

Diese Idee hat sich bei den großen Revolutionen, die gerade in Ägypten und Tunesien stattgefunden haben, als sehr stark erwiesen. Und zu einem Wandel wird es noch in vielen anderen Teilen der Welt kommen. Wegen der besseren Schulbildung heute brauchen sich die Menschen nicht mehr hinter Bomben zu verstecken oder Dynamitgürtel umzuschnallen und sich und andere umzubringen. Das bringt nichts.

SI: Glauben Sie, dass die internationale Gemeinschaft und vor allem die USA, der größte Wohltäter Israels, bei der israelischen Besetzung und Unterdrückung der Palästinensergebiete weniger bereitwillig wegschauen und eine entschlossenere Haltung gegenüber Israel einnehmen würde, wenn die Palästinenser eine gewaltfreie Widerstandsbewegung aufgebaut hätten ähnlich jener, zu denen Mahatma Gandhi in Indien oder Martin Luther King in den USA inspiriert haben? Oder hätte das auch nichts geändert?

MA: Mit der Gründung Israels und dann noch einmal nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 wurde diesem Staat in der amerikanischen Gesellschaft ein besonderer Status zugestanden - nicht nur in der Regierung, auch in den Kirchen und dem Schulwesen. Nirgendwo auf der Welt existiert ein so enges Verhältnis zwischen zwei Staaten, das dem zwischen Israel und den Vereinigten Staaten vergleichbar wäre. Daher spielt es auch keine Rolle, ob die Palästinenser gewaltsam oder gewaltfrei agieren - an der Vorstellung der USA von Israel würde sich so oder so überhaupt nichts ändern. Daran kann sich erst dann etwas ändern, wenn die israelischen Bürger akzeptieren, dass sie mit den Palästinensern Frieden schließen müssen. Dann würden sich die Vereinigten Staaten dem auch anschließen. Solange die Israelis nicht in der Lage und nicht willens sind, mit den Palästinensern Frieden zu schließen, bleiben die Vereinigten Staaten auf der Seite Israels. Und das gilt für linke wie für rechte US-Politiker gleichermaßen; folglich ist es egal, wer gerade im Amt ist.

Daraus wird deutlich, dass Gewalt gegen Israelis - und dafür gibt es viele Gründe - in den Vereinigten Staaten den Reflex auslöst, das rigide Verhalten der Israelis erst recht akzeptieren. Wenn es aber keine Gewalt gäbe, so könnte das zumindest ein wenig ändern. Viele Jahre lang hat es in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern keinen einzigen Terrorakt gegeben, und dennoch hat sich auf der israelischen Seite nichts geändert. Dann kam es wieder zu Gewalt, und das hat auch nichts geändert. Daher bin ich nicht sehr zuversichtlich hinsichtlich dessen, dass sich die Situation ändert.

Doch schauen Sie sich Südafrika an, dort hat ein Wandel stattgefunden, obwohl niemand je damit gerechnet hatte. Nehmen wir die Sowjetunion: Niemand hätte je gedacht, dass sie ohne Kampf, Gewehre oder Krieg zusammenbrechen würde, und doch zerfiel sie. Das gleiche geschah in Nordirland, das gleiche auch in den Vereinigten Staaten im Hinblick auf die Bürgerrechtsbewegung. In Südafrika haben Weiße, die auf der Seite der Gerechtigkeit standen, den Wandel herbeigeführt. In Nordirland haben die Briten den Wandel bewirkt. Während der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten haben Weiße den Wandel bewirkt. Das heißt also, dass ein Wandel eher von der stärkeren Seite als von der schwächeren herbeigeführt wird. In dem Konflikt zwischen den Palästinensern und Israelis ist Israel stärker. Die Israelis müssen sich andere Länder anschauen und einsehen, dass ein Wandel stattfinden muss.

SI: Wie kann eine Gruppe gewaltlos einen gesellschaftlichen Wandel zu Wege bringen?

MA: Zunächst müssen wir uns das Konzept der Menschenrechte ganz genau ansehen. Wenn jemand seiner Menschenrechte beraubt wird und zu schwach ist, um sich dagegen wehren und seine Rechte einfordern zu können - Kinderrechte, Frauenrechte, politische Rechte -, dann muss es jemanden anderen geben, der sich verpflichtet fühlt, für die Rechte solcher Menschen zu kämpfen, auch wenn er sie nicht kennt. Da kämpft zum Beispiel ein Amerikaner für die Rechte der Menschen in Nicaragua, ein Amerikaner oder ein Brite kämpft für die Rechte der Chinesen, jemand aus den Niederlanden kämpft für die Rechte der Palästinenser. Diese Leute kennen die Betroffenen vielleicht gar nicht, aber sie haben das Gefühl, dass in einer Gesellschaft niemand einem anderen seine Rechte nehmen darf. Und wenn dies doch geschieht, dann müssen wir etwas tun - aber gewaltlos.

Wir dürfen jemanden nicht deswegen töten, weil er jemand anderen seiner Menschenrechte beraubt. Das Seltsame an der Todesstrafe ist, dass der Staat sagt: "Weil Sie diese Person umgebracht haben, müssen wir Sie umbringen." Wir wissen, dass Töten falsch ist, egal wie und durch wen.
Wenn wir die Idee der Gewaltlosigkeit in die Praxis umsetzen, dann versuchen wir auch, die Sorgen und Ängste der anderen Seite zu erkennen und zu verstehen, warum sie sich so verhält. Wir machen ihr verständlich, dass wir ihr nichts antun wollen, aber auch, dass sie mit ihrem Verhalten anderen etwas antut. Gewaltlosigkeit wird häufig auf diese Weise praktiziert.
Ein Diktator meint vielleicht: "Ich werde von allen geliebt. Gott hat mich für sein Volk bestimmt." Dann sieht er, dass Tausende von Leuten auf der Straße ihn ablehnen und zu ihm sagen: "Verschwinde, wir mögen dich nicht." Also muss er eine Entscheidung treffen: "Oh Mann, ich dachte immer, dass ich von allen geliebt werde. Warum sind Tausende auf die Strasse gegangen und sagen, sie mögen mich nicht? Ich trete ab." Das ist die Macht der Gewaltlosigkeit - nicht des Einzelnen, sondern der Gruppe, von Abertausenden, die sich einem Wandel verschrieben haben.

Gewaltlosigkeit muss ernst genommen werden. Man darf sie nicht auf die leichte Schulter nehmen wie in den Vereinigten Staaten, wo sie bloß eine Wochenendaktivität ist. Vor Beginn des Irakkriegs sind an einem Wochenende Tausende von Menschen nach Washington DC gekommen, und danach verschwanden sie wieder. Wären diese Abertausende Menschen in Washington DC geblieben, Tag und Nacht, und hätten die Regierung, die Straßen, einfach alles in Washington DC blockiert, dann hätten die Politiker wirklich verstanden, dass diese Leute keinen Krieg im Irak wollten. Doch als der Sonntag rum war, sind alle wieder nach Hause gegangen und haben dann erzählt: "Hört mal, wir haben gegen einen Krieg im Irak protestiert."

Das war eher eine Wochenendverpflichtung und kein engagierter Protest, der bedeuten kann, sechs Monate oder auch nur drei Monate auf der Straße auszuharren - so lange, wie es eben nötig ist. Wir müssen so lange auf der Straße bleiben, bis sich etwas ändert.

Ein Beispiel: Washington DC hat keinen Senator, aber die Bevölkerung zahlt dafür trotzdem Steuern. Die Washingtoner akzeptieren das als Niederlage, mit der sie täglich leben. Aber wir erleben bisher nicht, dass sich in DC Tausende von Bürgern weigern, Steuern zu zahlen. Würden sich alle Einwohner so lange weigern, ihre Steuern zu zahlen, bis sie einen Senator bekommen, dann würde die Regierung sich bewegen. Einer allein oder zwei, zehn, zwanzig, auch hundert Leute können noch nichts bewirken. Damit sich etwas ändert, müssen es sehr viele sein...

SI: Könnten Sie etwas von Ihrer Arbeit mit Jugendlichen erzählen?

MA: Vielleicht fange ich damit an, dass mein Vater im arabisch-israelischen Krieg erschossen wurde. Ich kam ins Waisenhaus und wurde der Gesellschaft zur Last, und das war nicht meine Schuld. Ich fand, dass Kinder, deren Eltern gestorben sind, nicht benachteiligt werden dürfen. In meiner Jugend musste ich sehr oft hungrig zu Bett gehen; das war traurig.
Als ich zum Studieren in die USA kam, sah ich dort viele Menschen hungern. Ich sah viele Kinder mit 12, 13, 14 Jahren hinter Gittern sitzen. Während des Studiums verstärkte sich der Eindruck, dass mit einer so reichen Gesellschaft wie die der Vereinigten Staaten etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn sie nicht weiß, wie sie mit solchen Kindern umgehen soll. Ich fing an, Kinder aus Gefängnissen und Jugendeinrichtungen zu holen, und versuchte, bei ihnen zu Hause mit ihnen zu arbeiten, und Verwandte zu finden, bei denen sie besser aufgehoben waren als in Einrichtungen, Gefängnissen oder Pflegefamilien.

Ich war sehr dankbar, dass viele Menschen mir zustimmten. Wir gründeten eine Organisation, die den Jugendlichen unter anderem auch mit einem spirituellen Ansatz zu vermitteln versucht, dass sie für die Gesellschaft keine Belastung sind. Wir müssen ihnen helfen, sich als Teil der Gesellschaft zu sehen. Wir sorgen dafür, dass sie wieder zur Schule gehen, dass sie wieder einer Arbeit nachgehen, und es ist immer wieder eine Freude zu erleben, wenn einige von ihnen Erfolg im Leben haben. Nachdem wir in Ohio angefangen hatten, wollte man uns bald auch Kinder aus Indiana und West Virginia schicken, aber wir sagten: "Nein, wir kommen nach West Virginia und Indiana und lösen dort die Probleme." Inzwischen sind wir in neun Bundesstaaten aktiv und verfügen über ein Budget von mehr als 50 Millionen Dollar. Wir können sehr vielen Kindern und Familien helfen und sind auf unsere Arbeit stolz.

SI: Möchten Sie zum Abschluss dem noch etwas hinzufügen?

MA: Sie müssen sich jetzt die Macht der Gewaltlosigkeit im Nahen Osten anschauen. Sie wird das gesamte bisherige Weltbild der Menschen verändern, da sie erfahren, das sie das, was sie wollen, durch selbstverantwortliches Handeln erreichen können. Schauen Sie sich auch die Entwicklung im Bildungswesen an. Ich lehre an der American University in Washington DC, wo eine unserer größten Abteilungen die Friedenspädagogik ist. In der Friedenspädagogik haben wir inzwischen mehr Studenten als im Maschinenbau oder in irgendeinem anderen Fach. Heute lehren nahezu alle Universitäten Konfliktlösung, Gewaltlosigkeit und Friedensforschung. Vor fünf, zehn oder fünfzehn Jahren gab es das noch nicht. Unsere Bildungsschwerpunkte verändern sich, und das ist auch unerlässlich, wenn wir jemals den Punkt erreichen wollen, wo wir uns nicht mehr bekämpfen und gegenseitig vernichten müssen.

Weitere Informationen unter: www.nonviolenceinternational.net